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Kein Leben von der Stange. Geschichten von Arbeit, Migration und Familie

Stadtlabor-Ausstellung
28. November 2019 bis 5. April 2020
Migration ist der Normalfall der Geschichte. Alle Gesellschaften sind wesentlich durch Migrationsgeschichten geprägt. In Frankfurt hat heute über die Hälfte der Bevölkerung einen sogenannten „Migrationshintergrund“, bei Kindern sind es sogar über 70 Prozent. Dennoch ist Migrationsgeschichte immer noch nicht selbstverständlicher Bestandteil des deutschen kollektiven Gedächtnisses. Mit der Stadtlabor-Ausstellung „Kein Leben von der Stange. Geschichten von Arbeit, Migration und Familie“ rückten wir Erfahrungen und Erinnerungen von Arbeitsmigrant*innen in den Mittelpunkt, von den "Gastarbeiter*innen" der 1960er Jahren bis zu den "Expats" der Gegenwart.

Impuls für die Ausstellung

Die Idee für „Kein Leben von der Stange“ wurde bereits 2017 beim Stadtlabor „Sammlungs-Check: Migration partizipativ sammeln" formuliert. Viele Teilnehmer*innen des damaligen Stadtlabors gehören der zweiten Generation von Einwander*innen an, deren Eltern vorwiegend als „Gastarbeiter*innen“ nach Deutschland kamen. Sie formulierten den Wunsch, ihre spezifischen Erfahrungen in einem offiziellen Erinnerungsraum wie dem Historischen Museum zu artikulieren und festzuhalten. Aus diesen Ideen ist das Stadtlabor „Kein Leben von der Stange“ entstanden.

Arbeitsmigration – von der Gastarbeiter*innen-Zeit bis in die Gegenwart

In Zusammenarbeit mit dem Museumsteam erarbeiteten die Stadtlaborant*innen sieben Beiträge, die zeigten, wie Arbeit und Migration das Familienleben prägen und verändern. Hinzu kamen zwei künstlerische Installationen. In allen Beiträgen wurden verschiedene Phasen und Epochen der jüngeren Migrationsgeschichte thematisiert, von der sogenannten „Gastarbeiterzeit“ bis in die Gegenwart.

Migrationsgeschichte erzählen

Die Ausstellung präsentierte rund 70 individuelle Geschichten und wollte dazu anregen, auch die eigene (Migrations-) Geschichte zu erzählen bzw. sich die Geschichte von Freund*innen, Kolleg*innen, Verwandten erzählen zu lassen. In der Ausstellung luden wir dazu ein, auf zwei Sesselchen mit Main-Blick Platz zu nehmen und zu erzählen. Als Gesprächs-Anreger standen zwei Erzähl-Mal-Hefte bereit. Diese Hefte konnten von den Besucher*innen auch mitgenommen werden. Sie erfreuten sich großer Beliebtheit und können hier heruntergeladen werden (Materialien, s. unten). Im Rahmenprogramm boten Erzählcafés, Workshops, Dialogführungen und intersektionale Generationendialoge zahlreiche Möglichkeiten zum Austausch an.

Mehr zu den einzelnen Beiträgen

Die "Frankfurter Geschichten" stellten schlaglichtartig 15 Frankfurter*innen vor, die als Arbeitsmigrant*innen in die Stadt kamen. Dabei zeigte sich die enorme Spannbreite zwischen prekär Beschäftigten und gesuchten Spezialist*innen. In den Kurzporträts wurde deutlich, mit welchen sprachlichen, strukturellen und emotionalen Schwierigkeiten Migrant*innen konfrontiert sind. Aber auch der Blick auf Selbstorganisationen oder Potentiale wurde eröffnet. Wie Migration erinnert wird, welche Bilder in unser kollektives Gedächtnis eingegangen sind, wurde an vier Medienmaschinen reflektiert, die Filme, Fotografien und Audioaufnahmen sowie Begriffe und Statistiken präsentierten.

Änderungsschneidereien

Sema Yilmazer lenkte den Blick des Stadtlabors auf das kaum beachtete Arbeitsfeld von Änderungsschneider*innen in Frankfurt. Seit den 1960er werden immer mehr dieser Unternehmen von „Gastarbeiter*innen“ geführt, die den Schritt aus der Lohnabhängigkeit in die Selbständigkeit getan haben. In der Ausstellung wurden drei Filmporträts von Änderungsschneider*innen präsentiert, die von den Vor- und Nachteilen der Selbständigkeit erzählten: Sie erlaubt freie Zeiteinteilung und damit auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Sie ist aber oft auch die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen, wenn man aufgrund fehlender Anerkennung der eigenen Qualifikation oder arbeitsrechtlicher Regelungen keine Anstellung findet. Und als Unternehmer*in trägt man auch das volle Risiko für die eigene Existenz.

Die Perspektive der Kinder

In fünf der neun Beiträge stand das Erleben von Kindern und Jugendlichen im Mittelpunkt. Olcay Acet lenkte mit ihrer künstlerischen Installation „Generation Einskommafünf" den Blick auf türkische Kinder, die von ihren Eltern getrennt aufwuchsen. Das Anwerbeabkommen zwischen der BRD und der Türkei schloss den Familiennachzug aus, so dass viele Kinder bei Verwandten aufwuchsen. In den Videoporträts berichten Erwachsene – die Kinder von damals – welche Folgen die Trennungserfahrung für sie hatte. Ihre Arbeit soll dazu beitragen, die Narben des Zurückgelassen-Worden-Seins und des Nicht-Ankommen-Könnens in den Blick zu rücken. Olcay Acet konstatiert, dass diese Erfahrungen bislang nicht zum kollektiven Gedächtnis gehören, obwohl zumindest die Anwerbeabkommen als Teil der deutschen Geschichte anerkannt sind.

Auch Sewastos Sampsounis thematisiert in seinem Beitrag "Kofferdenkmal" die Trennungserfahrung von den Eltern. Anders als Olcay Acet wählt er den Begriff des "Kofferkinds" für sich. Dieser umstrittene Begriff bezeichnet Kinder der ersten Gastarbeiter*innen-Generation, die in den Herkunftsländern zurückgelassen wurden oder zwischen Deutschland und den Entsendeländern hin und her pendelten. In seiner Installation, die einen Koffer auf einem Sockel zeigt, wird der Koffer auch als Symbol der Gastarbeiter*innen-Migration inszeniert, als "Gastarbeiter-Denkmal". Der Koffer ist ein Museumsobjekt ohne Geschichte, den Sewastos Sampsounis im Rahmen des Sammlungs-Check kennenlernte. In "Kein Leben von der Stange" lud er die Besucher*innen ein, dem Koffer eine Geschichte zu geben. Eingereicht wurden über 70 Geschichten, die in der Ausstellung präsentiert wurden.

Tamara Labas führte für ihren Beitrag "wurzelkoffergeschichten" Interviews mit Kindern und Enkeln der "Gastarbeiter*innen". Sie arbeitete heraus, wie die Migrationsgeschichte der Vorfahren das eigene Leben und Erleben prägt(e). Einsamkeit und Anpassungsdruck waren zwei der zentralen Motive. Die Interviews wurden transkribiert und in künstlerisch gestalteten Büchlein präsentiert, die in die Bibliothek der Generationen eingegangen sind, wo sie weiterhin eingesehen werden können.

Im Beitrag "Meine Familie im Fluss" von Ibrahim Aydin stellten Schüler*innen des herkunftssprachlichen Türkisch-Unterrichts ihre Familien dar, die über Ländergrenzen hinweg organisiert sind. Die Sprache ist ein wichtiges Instrument, um die Familienbeziehungen aufrecht zu erhalten. Mit seinem Beitrag betonte Ibrahim Aydin auch, dass Mehrsprachigkeit eine wichtige und gerade im Hinblick auf türkischsprachige Kinder immer noch unterschätzte Ressource darstellt.

Was wissen Jugendliche über die Migrationsgeschichte ihrer Eltern oder Großeltern? Welche Rolle spielt diese Geschichte für sie? Diesen Fragen ging Olcay Acet in dem Beitrag "Stimmen der Migration" nach. Die Jugendlichen wurden angeleitet, Interviews vorzubereiten, durchzuführen und für die Ausstellung zu schneiden. Präsentiert wurden sie auf alten Telefonen.

Die recherchebasierte künstlerische Arbeit von bi’bak „Bitter Things – Narrative und Erinnerungen transnationaler Familien“ thematisiert die Familientrennung durch Arbeitsmigration mit einem Fokus auf die – häufig bitteren – Dinge: Das Senden von Geschenken ist eine gängige Praxis innerhalb transnationaler Familien und kann doch nicht die Nähe von Eltern und Kindern kompensieren. Das Projekt schlägt einen Bogen von der sogenannten Gastarbeiter*innen-Zeit zur Gegenwart; heute sind die meisten Arbeitsmigrant*innen in Deutschland als Pfleger*innen, in der Alten- oder Kinderbetreuung tätig.

Gemacht und gefördert von

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Materialien zur Ausstellung

Dokumentation